
Märchen mit Martin: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
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- Tags Lesen, Märchen
“Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern”
Es war ein eiskalter Abend, der letzte im alten Jahr. Schnee fiel vom Himmel und es wurde schon dunkel. Auf der Straße lief ein kleines armes Mädchen mit bloßem Kopf und nackten Füßen. Es hatte zwar Schuhe an, als es von zu Hause wegging, aber die waren viel zu groß. Sie gehörten seiner Mutter, die schon gestorben war. Das Mädchen verlor die Schuhe, als es über die Straße rannte, weil zwei Autos schnell an ihm vorbeifuhren. Einen Schuh konnte es nicht mehr finden und den anderen nahm ein Junge mit, der sagte, er würde ihn als Wiege für seine Puppe benutzen.
So ging das Mädchen mit seinen kleinen kalten Füßen weiter. Es trug eine alte Schürze, in der es viele Streichhölzer hatte. Ein ganzes Päckchen hielt es in der Hand. Den ganzen Tag hatte es niemandem etwas verkauft und niemand hatte ihm etwas geschenkt. Es war hungrig und fror. Es sah sehr traurig und ängstlich aus. Die Schneeflocken fielen auf sein langes blondes Haar, das über seinen Nacken hing. Aber das war ihm egal. Aus allen Fenstern leuchtete es hell und es roch nach leckerem Gänsebraten. Es war Silvesterabend und das Mädchen dachte an all die schönen Dinge, die es nicht hatte.
In einer Ecke zwischen zwei Häusern kauerte es sich hin. Es zog seine Beine an, aber es wurde nicht wärmer. Es traute sich nicht nach Hause zu gehen, weil es kein Geld verdient hatte. Sein Vater würde es schlagen und zu Hause war es auch kalt. Sie wohnten unter dem Dach und der Wind pfiff durch die Löcher, die sie mit Stroh und Lumpen gestopft hatten. Wie gerne hätte das Mädchen ein Streichholz angezündet, um sich die Finger zu wärmen. Aber es wagte nicht, weil es Angst hatte, dass sein Vater es merken würde. Schließlich nahm es doch eins und rieb es an der Wand. Zisch! Es sprühte und brannte. Das Streichholz gab ein warmes helles Licht, wie eine kleine Kerze. Das Mädchen hielt es in der Hand und fühlte sich wohl. Es war ein seltsames Licht. Es sah aus, als ob es vor einem großen Eisenofen mit Messingknöpfen und Messingverzierungen saß. Das Feuer knisterte und wärmte. Das Mädchen streckte seine Füße aus, um sie auch zu wärmen. Aber dann ging das Streichholz aus. Der Ofen verschwand und das Mädchen saß wieder in der Dunkelheit.
Es zündete ein neues Streichholz an. Es brannte und leuchtete. Und an der Stelle der Wand, wo das Licht hinfiel, wurde sie durchsichtig wie ein Tuch. Das Mädchen sah in ein Zimmer hinein, wo ein Tisch mit einem weißen Tischtuch und feinem Geschirr gedeckt war. Darauf stand eine gebratene Gans, die mit Pflaumen und Äpfeln gefüllt war. Und was noch toller war, die Gans sprang aus der Schüssel und lief mit einer Gabel und einem Messer im Rücken über den Boden. Sie kam direkt auf das Mädchen zu. Aber dann ging das Streichholz aus. Die Wand war wieder da und das Mädchen roch nur noch den Gänsebraten.
Es zündete ein neues Streichholz an. Da saß es unter dem schönsten Weihnachtsbaum, den es je gesehen hatte. Er war noch größer und bunter geschmückt als der, den es einmal bei einem reichen Kaufmann durch die Glastür gesehen hatte. Tausende von Kerzen brannten auf den grünen Zweigen und bunte Kugeln, Sterne und Engel glitzerten. Das Mädchen streckte seine Hände nach ihnen aus. Aber dann ging das Streichholz aus. Die vielen Kerzen stiegen höher und höher und das Mädchen sah, dass es die Sterne am Himmel waren. Einer von ihnen fiel herunter und zog einen langen Feuerschweif hinter sich her. “Jetzt stirbt jemand”, sagte das Mädchen, denn seine alte Großmutter, die es sehr lieb gehabt hatte, aber schon tot war, hatte gesagt: “Wenn ein Stern fällt, geht eine Seele zu Gott.”
Es rieb ein neues Streichholz an der Wand. Es leuchtete weit umher und im Licht stand die alte Großmutter, hell und freundlich. “Großmutter”, rief das Mädchen, “nimm mich mit dir. Ich weiß, dass du weggehst, wenn das Streichholz ausgeht. Du gehst weg wie der Ofen, die Gans und der Weihnachtsbaum.” Schnell zündete es alle Streichhölzer an, die es noch hatte. Es wollte die Großmutter festhalten. Und die Streichhölzer gaben so viel Licht, dass es heller war als am Tag. Die Großmutter war so schön und groß wie nie zuvor. Sie nahm das Mädchen in ihre Arme und flog mit ihm hoch in den Himmel. Dort war es warm und glücklich. Es spürte keinen Hunger, keine Kälte und keine Angst mehr. Es war bei Gott.
Aber in der Ecke am Haus saß am nächsten Morgen das kleine Mädchen mit roten Wangen und einem Lächeln um den Mund. Es war tot, erfroren in der letzten Nacht des alten Jahres. Der Morgen des neuen Jahres ging über der kleinen Leiche auf, die mit den Streichhölzern, von denen fast ein ganzes Päckchen verbrannt war, dasaß. “Sie hat sich wärmen wollen”, sagte man. Niemand wusste, was sie Schönes gesehen hatte und wie glücklich sie mit ihrer Großmutter ins neue Jahr gegangen war.
